Schriftlicher Entwurf eines Vortrages zum Thema "Kunst und Alltag"

Ó Michael Stoll 1992

 

 

 

 

 

 

 

                            KUNST UND ALLTAG

 

 

 

Schriftliche Grundlage

eines Vortrages, gehalten

im Rahmen der Volkshochschule

Bodenseekreis / Überlingen

im Alten Rathaus Bambergen

19. November 1992

von Michael Stoll

 

 


 

 

 

 

Der Traum vom Baum

 

Es steht ein Kirschbaum in Blüte

 und zeigt die weißen Blütenblätter. Der Kirschbaum steht dort

 auf dem grünen Platz und erzählt jeden Augenblick soviel. Der Kirschbaum steht und der Mensch wird ihm gleich und weiß von den Kirschen und weiß von der Rinde und weiß von der Sonne und weiß von dem Regen und weiß

von dem Frühjahr und weiß von dem Gras

 und weiß von dem Schatten

und weiß ...

 

(aus: MERGAT)

 

 

 


I.

 

II.     Begriffsklärung - Alltag

 

III.    Begriffsklärung - Kunst

 

IV.    Reine Wahrnehmung

 

V.     Ver-festigung von Bewegtem

 

VI.    Verwandlung der Wirklichkeit

 

VII.   Materie als Gleichnismoment

 

VIII.  Der Wärmebedarf des Menschen

 

IX.    Öffnung des Kunstbegriffes

 

X.     Homo ludens

 

 

 

 


II.

 

 

Alltag - was ist unter diesem Begriff zu verstehen?

 

Wir können von einer Schattenseite des Begriffes sprechen. Dort ist der Alltag mit der ermüdenden Gewohnheit verbunden, mit der tagtäglichen Wiederkehr von Pflichten und Handlungen, welchen wir scheinbar nicht entrinnen können, die uns auferlegt sind, ohne daß wir hierbei Neugierde ver-spüren und ohne daß wir freudig dabei sind. (...)

 

Auf der anderen Seite ist der Alltag das tägliche Geschehen mit seinen unzähligen Augenblicken, deren jeder uns zum Staunen führen kann, wo nichts bedeutender oder weniger bedeutend ist, wo alles sich uns als wunderbares Geschehen menschlicher Wirklichkeit schenkt, uns einlädt an unserem Platz zu wirken und Leben zu gestalten, - wir unserer Verantwortung als Menschen innerhalb der Ordnung des Kosmos gewahr werden können.

 

 


 

III.

 

 

Die Schattenseite des Begriffes Kunst läßt sich in unserer Zeit darin finden, daß Kunst zu einem Teilsystem im großen gesellschaftlichen System geworden ist;

Innerhalb diesem hat die Kunst, oder was sich als solch Handelbare verkauft, die Aufgabe, ein Teil-geschäft des "großen Geschäftes" zu sein, kalkulierbar und, zu höchst, bestehende Zustände ein wenig belebend.

Hier gibt es Wert-skalen was "gute Kunst" ist und "schlechte Kunst"; ¾- Maßstäbe von Bedeutungskonstrukten, Zweit-, Dritt-, und Viertgeschwätzigkeiten, die nicht weiter reichen als Meßlatten höchster Sprünge längst vergangener Zeiten des Kunstschaffens. (...)

 

Und was ist eine mögliche Aufgabe der Kunst der Gegenwart; was läßt sich auf der Sonnenseite des Begriffes finden?

 

Kunstausübung setzt immer den offenen Blick auf die ganze erfahrbare Wirklichkeit voraus; - in der Auseinandersetzung, im bewegten Umgehen mit dieser Wirklichkeit ergreift der Künstler sein Kunstmittel und bildet etwas, schafft einen, seinen Ausdruck, mit welchem er Wirklichkeit gestaltet.

Dieser Ausdruck trägt in sich das Ringen, die Auseinandersetzung mit der wahrgenommenen Wirklichkeit und ist fähig, neue Lösungsansätze, neue Sichtweisen zur Gestaltung und Empfindung der Gegenwart aufzuzeigen.

 

Es ist über einen solchen Prozeß etwas in der Welt was diese deutet, ohne im bloß Begrifflichen zu ver-bleiben, sondern die ganze Wirklichkeit des Menschen, also die Gesamtheit seiner Sinne, umfaßt und trans-zendiert;

 

 

Das Wesen-tliche der Kunst ist das Moment der Freiheit; - nichts ist der Vergangenheit verhaftet, noch unentwickelter Zukünftigkeit chaotisierend verfallen, sondern als Gegenwarts-Kunst öffnet sie den Zugang für das wunderbar erscheinende Augenblicksmoment stetig erneuernder Wirklichkeit, ¾ dem Leben.

 

 

 


IV.

 

 

Löst der Mensch sich vom Bemühen, Begriffe wie Alltag und Kunst zu ergründen und zu klären, entzieht er sich überhaupt dem Drang und grundlegendem Bedürfnis des Menschen, tiefer fragend und suchend sich zu orientieren, geht er kindlich durch diese schillernde Wirklichkeit, die uns das menschliche Leben zuträgt.

So spürt er gewordene Verdichtungen, erscheinend als Widerstände, erfährt gegebene Kräfte und vermag auf der einen Seite die Widerstände mit dem Schwert zu zerschlagen, und, oder, ¾ beginnt sich an gegebenen Grenzen zu orientieren, sich den Verhältnissen an-zu-passen.

 

Und doch, da-zwischen leuchtet ein Bild ¾ voller Ahnung die Sicht auf ein All der Möglichkeit, mit dem Bilderspiel einer sich immer wieder neu eröffnenden Wirklichkeit ver-wandelnd um-zu-gehen.

 

 

 

V.

 

 

Stelle ich mir eine Wachsplatte vor, die in einem warmen, fast heißen Zustand ist, und fahre ich mit meinem rechten Zeigefinger darüber, so wird dieser mühelos eine Spur, einen Eindruck hinterlassen; die Wachsplatte ist leicht formbar.

Kehre ich der unbehandelten, noch warmen Wachsplatte den Rücken und komme nach einer Stunde zurück, so kann ich selbst unter größter Anstrengung den Wachs kaum noch plastizieren, er hat sich verfestigt.

 

Als die DDR in ihren Verhältnissen 1989/90 über eine Revolution  zerstört wurde, war es einem Heizungsmonteur in der Stadt Grimma bei Leipzig möglich, auf Grund seiner SPD - Parteizugehörigkeit zum Sozialdezernenten des Kreises Grimma berufen zu werden, ¾ dies ohne jegliche verwaltungstechnische Vorbildung.

1992 ein undenkbares Unterfangen im Rahmen der bundesrepublikanisch adaptierten Bestimmungen und Erfordernissen eine solche Berufung durchzuführen.

 

Ordnungen, Strukturen neigen zur Verhärtung. Sobald eine Struktur sich gebildet hat, entzieht sich das Wärmemoment, da dieses zur Bildung, Entstehung der Ordnung nicht mehr notwendig ist.

 

Gefahr erfolgt durch Erstarrung, Reglosigkeit an falscher Stelle, ¾ das formale Moment, was zur Bildung einer Institution an Regel und Übereinkunft notwendig ist  wird zum Selbstläufer, ¾ was, wie im Fall des zentralistischen Einheitsstaates, der DDR, lebens-not-wendiger-weise zur Zerstörung des gesellschaftlichen Gesammt - Gefüges führen mußte (s. auch www.michaelstoll.de/freiheit.htm )

 

 


 

VI.

 

 

Ist dem Menschen seine Wahrnehmung nicht allein auf vor-gegebene und un-veränderliche Strukturen gerichtet, ja kann er die Wirklichkeit als eine veränderbare und vielschichtige wahrnehmen und seinen eigenen Impulsen folgend diese mit Hilfe ihrer tragenden Grundstruktur verwandeln, vielleicht sinnvoller, lebendiger ordnen, gestalten - ; so empfindet der Mensch durch sein Wirken Freiheit.


 

 

 

VII.

 

 

Vorgegeben ist dem Maler die Farbe, dem Musiker das Instrument, dem Dichter der Begriff.

 

Bedeutsam ist nicht in erster Linie die Materie der Gestalt-ung, sondern das Ringen  um Ausdruck, Herausstellung und Klärung innerer Wirklichkeit scheint eigentlichste Aufgabe;

 

Das Material, irdische Grundlage eines solchen Schaffens, erscheint hier als bloße Spitze eines Eisberges; tragend und wahrhaft mächtig ist vor-weltliche Wirklichkeit, die Bestand trägt und grundlegend ist.

 

Die Sinnlichkeit der Dinge ist für einen solchen Menschen, Künstler, bloßer Ausschnitt eines Spektrums, ein Ausschnitt der an Bedeutsamkeit in der Gemeinschaftsfähigkeit seines Kunstschaffens zu gewinnen vermag; was andere Augen sehen und erlösend empfinden, kann zum Spiegel eigen gewonnener Klärung werden.


 

 

 

VIII.

 

 

Der Mensch ist innerhalb seiner körpergebundenen Existenz mit elementaren Bedürfnissen ausgestattet;

diesen liegt ein Wärmebedarf zu Grunde. Unser Körper benötigt eine konstante Temperatur, um entwicklungsfähig zu sein. Wir fühlen uns wohl, sobald von Außen möglichst viel dazu beigetragen wird, diese Temperatur zu gewährleisten. ---

 

Es entstand in der Menschheit die Idee, der Mensch könne sich sein Wohlbefinden quasi bestellen, er müsse nur dem Bedürfnischarakter seiner Körperlichkeit gerecht werden.

Diese materialistische Gesinnung erwies sich als Einbruch ins Eis. Grundlegendere Wärmebedürfnisse, wir nennen sie seelisch-geistiger Natur, ideeller Natur, sind dem Wärmebedürfnis des Körpers vorgelagert, d.h. um selbstständiger, freier in meinem "Wärmehaushalt" zu werden, bedarf ich als Mensch einer seelisch-geistigen Reifung, einer gegebenen Individuation.

 

Es bleibt der Verantwortung des Menschen übergeben, auch seinen körperlichen Bedürfnissen gerecht zu werden; dies fordert ein Wirtschaftssystem, welches die Produktion und Verteilung materieller Güter übernimmt.

 

Wird dieses Wirtschaftssystem jedoch zur gewaltigen, alles überwuchernden Megamaschine, mit der alles bestimmenden und unterjochenden Zweckbestimmung des Profites, mit Knute und Zuckerbrot von Entlassung und Lohnerhöhung; der Megamaschine innerhalb einer menschlichen Gesellschaft, bei welcher Werbezwang und sublime Konsumvorschriften an die Kinder finanzgeplagter Eltern zum bestimmenden Machtfaktor wird, da besteht die Gefahr daß ein solch unkontrolliertes und selbstlaufendes System, da es keine grundlegende Kontrollinstanz mehr besitzt

an sich zu

Grunde

geht.

 

Gleichzusetzen wäre ein solcher Prozeß mit dem Schemen eines Eisberges, welcher auf eine Reise über den Ozean gehen will, obgleich er nur eine Spitze besitzt, seinen wahren Grund, seine wahre Begründung verloren hat. 


 

 

 

IX.

 

 

Die Bewegungsfähigkeit zeichnet das künstlerische Schaffen aus; - Um mit dem Alltag, und seiner Gefährdung der Bewegungsverarmung, eine Synthese, eine befruchtende Einheit eingehen zu können, ist es notwendig, Grenzen radikal und stetig, all-täglich zu öffnen, sie  z u m  A t m e n  z u  b r i n g e n.

 

 

Die Wirklichkeit des Menschen gilt als Aufgabe ¾ der Begegnung, deren Verwirklichung immer mit einem Geschenk, einer Gabe der Bedeutungsvielfalt, einer reicheren Erfahrung und weiteren Bewußt-seins einhergeht.

 

 

So können Kunst und Alltag eine Synthese eingehen, in der die traditionellen Bereiche des Kunst-schaffens und Kunstwirkens als Lehr-und Ausbildungsstätte bewegten, innerlich erfüllten Tuns zwar aufrecht erhalten und weiter-entwickelt werden, aber nur um in zarten Übergängen den Alltag zur Kunst, Lebenskunst entstehen zu lassen. -------


 

 

 

X.

 

 

Der "Homo ludens", der spielende Mensch, ist Kind, doch besitzt dieses Kind die Weisheit, Verantwortung gegenüber seinem Tun zu empfinden.

 

Der "Homo ludens" ist ein Idealbid, die Vision eines Menschen, der das Staunen der so unendlich vielschichtigen Wirklichkeit gegenüber trägt, und, vielleicht gerade deshalb, seinem einzelnen Tun die Ver-antwortung gegenüber empfindet.

 

Was kann mit diesem Nicht-wissen seiner Herkunft gegenüber der Mensch anders vermögen, als dieses Leben als ein Spiel, ein wahrhaft ernstes, da sein einziges in dieser Sphäre, ¾ als ein Spiel zu begreifen, zu ergreifen,  mit einer Leichtigkeit, mit einer Hingabe, aber doch der Gewißheit, daß jedes Spiel seine Begrenzung und zeitliches Ende trägt.

 

 


 

 

... Und wieder betrachtete

 Mergatseine Glieder und befahl den

Händen mit ihren Fingern,Figuren in den Muldensand

zu zeichnen. Mergat vernahmTöne und spielt mit

Stöckchen und Blattwerk,wie er es als Kind

oft getan hatte.Sein Spiel durchkreuzte den

in der Stadt so leichtvorgegebenen Lebensplan,

denn Mergat erhielt stolze

Freude ...

 

 

(aus: MERGAT)

 

 

 

( ¾¾¾¾¾¾ )